Interviewreihe

Zwischen Bremen und Prag liegen 617 Kilometer – und viele, viele Geschichten. In unserer Interviewreihe erzählen Menschen, was sie mit Tschechien verbindet, was sie an Norddeutschland lieben – und was ihr Lieblingswort in einer der beiden Sprachen ist.

Die Deutschen zischen, die Tschech*innen krähen

Dr. Eliška Dunowski im Interview

Dr. Eliška Dunowski

Hallo Frau Dr. Dunowski, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen.  Wir steigen direkt ein: Wer sind Sie?

Ich bin gebürtige Tschechin, 36 Jahre alt und promovierte DaF-Didaktikerin* (Anmerkung: DaF = „Deutsch als Fremdsprache“) und lebe seit zehn Jahren in Deutschland. Beruflich bin und war ich in vielen Feldern aktiv, unter anderen als Lektorin in Brno, als Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache am Goetheinstitut sowie als Beurteilerin im Bereich der deutschen Sprachzertifikate. Derzeit verschiebt es sich mehr in Richtung Forschung und Lehre, ich arbeite an der Uni Bremen als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, vor allem in der Lehramtsausbildung und im unterrichtlichen Kontext.  

Was außerdem mich als Person sehr geprägt hat, ist, dass ich einen deutschen Seemann geheiratet habe. Das hat mir viele neue Perspektiven eröffnet. Und es hat meine Perspektive aufs Meer verändert.

Inwiefern? Den Tschech*innen wird ja eine gewisse romantische Sehnsucht nach dem Meer nachgesagt, um einmal ein Klischee zu strapazieren…

Ja, das stimmt (lacht). Wenn Tschech*innen vom Meer reden, meinen sie meistens das Mittelmeer oder die Adria, also einen Ort, an dem es warm ist. Wenn ich erzähle, dass ich mit meiner Familie ein paar Tage an der Nordsee war, fällt die Begeisterung nicht so groß aus. „Viel zu kalt“ heißt es dann. Ich habe für mich allerdings entdeckt, dass ich Nord- und Ostsee wunderschön finde. Das wollen mir meine Bekannten in Tschechien immer nicht glauben.

Wann waren Sie zuletzt in Tschechien – und was war der Anlass?

Ich komme gerade von einem Besuch wieder. Ich war bei meiner Familie und habe meine Kinder zu den Großeltern gebracht. Wenn nichts dazwischenkommt, bleiben sie dort für den Rest der Ferien.

Das heißt, Ihre Kinder haben viel Kontakt zur tschechischen Verwandtschaft?

Ja, das ist mir sehr wichtig. Auch, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen. Mein Mann hat ebenfalls Tschechisch gelernt, um sich mit meiner Familie unterhalten zu können. Das funktioniert sehr gut, er kann inzwischen alles gut verstehen.

Ich fand es auch sehr spannend zu beobachten, wie es sich bei meinen Kindern entwickelt. Mein Ältester hat immer viel tschechisch gesprochen und großen Wert daraufgelegt. Er hat da viel Ehrgeiz. Unsere Mittlere dagegen hat erst mit vier Jahren angefangen, aktiv tschechisch zu sprechen, dann ist es aber förmlich explodiert. Diese Entwicklungen kamen für mich nicht so überraschend, weil ich mich beruflich mit Sprache und Spracherwerb beschäftige, aber es ist sehr spannend, das Ganze einmal selbst zu erleben und direkt zu begleiten.  Und bei unserem Kleinsten verläuft die Sprachaneignung vom Tschechischen auch wieder ganz anders als bei den beiden großen.

Was ist Ihrer Meinung nach typisch deutsch, was ist typisch tschechisch? Und was sind Gemeinsamkeiten?

Also, ganz klar: Die Sache mit den Regeln. Das ist für mich sehr deutsch. Völlig egal, ob es ums Autofahren geht oder um Lizenzverträge: Wenn es eine Regel gibt, dann hält man sich in Deutschland daran.

In Tschechien ist eher das Gegenteil der Fall: Es gibt Regeln, aber ein gewisser, ich sage mal, lockerer Umgang damit ist eher der Normalfall als die Ausnahme.

Und: Deutsche und Tschech*innen schimpfen unterschiedlich. Das finde ich im Kontext von Sprache und Sprechen sehr spannend.

Inwieweit unterscheidet es sich?

Wenn einem etwas wirklich Blödes passiert, sagt man in Deutschland ein Wort, in dem irgendwo ein „sch“ vorkommt – in verschiedenen Variationen. Die Deutschen zischen, wenn sie fluchen. Bei Tschech*innen ist es eher ein Krähen. Tatsächlich habe ich festgestellt: Die typisch deutschen Zisch-Laute stellen mich nicht zufrieden. Sie drücken für mich nicht annähernd das aus, was ich fühle, wenn ich richtig wütend bin.

Diese Frage ist eigentlich untypisch und weicht etwas vom Skript ab. Aber jetzt muss ich sie stellen: Welche Sprache benutzen Sie, wenn Sie wütend sind?

Was denken Sie? (lacht) Generell ist auch mein Eindruck: Die Grenze dessen, was als „schlimmes Wort“ empfunden wird, ist in Deutschland deutlich niedriger. Was im Tschechischen noch als „Emotionalität“ durchgeht, als ein einfaches Aufregen, zum Beispiel im Straßenverkehr, würde – wenn man es wörtlich übersetzt – auf Deutsch als deutlich derber und härter wahrgenommen. Ohne dass es wirklich so gemeint ist.

Das Verbindende: Gibt es etwas, das Menschen aus Tschechien und Deutschland voneinander lernen können / sollten?

Ich finde, was die Tschech*innen sich von den Deutschen abschauen sollten, ist die Toleranz, eine Offenheit – und zwar in allen Bereichen. In Tschechien wird sehr schnell gewertet und bewertet. Das ist natürlich mein subjektiver Eindruck, aber so einfach und pauschal funktioniert es eben nicht. Außerdem sollten die Leute sich einmal die Frage stellen: Was macht es eigentlich mit mir, wenn ich den ganzen Tag bewerte – und meinerseits auch bewertet werde? Auch das Thema mit den Geflüchteten: Das gibt es oft die Aussage: Man wolle keine Geflüchteten, das sei ja alles „ganz ganz schlimm“. Sowas hört man von Menschen – auch gebildeten Menschen! – die noch nie im Leben wirklich Kontakt mit Geflüchteten hatten. Und wenn man nachfragt, was genau denn „so schlimm“ sei, haben diese Menschen keine Antwort, kein Argument.

Damit möchte ich übrigens nicht sagen, dass ich mit allem einverstanden bin, wie es ein Deutschland gehandhabt wird.

Umgekehrt denke ich: Die Lockerheit. Die könnten sich die Deutschen ruhig von den Tschech*innen abgucken. Dass man nicht jede Regel so genau nehmen muss, dass es nicht ganz so schlimm ist, wenn die Nachbarn mal etwas lauter Musik hören, weil es etwas zu feiern gibt. Ein bisschen mehr Emotionalität könnte auch nicht schaden.

Als nächstes kommt die Frage nach Ihrem Lieblingswort. Da Sie sich so viel mit Sprache beschäftigen, bin ich auf Ihre Antwort nun besonders gespannt.

Mein deutsches Lieblingswort ist „Rhabarbermarmelade“. Ich finde, dass diese Marmelade einfach genauso schmeckt, wie das Wort sich anhört.

Mein Lieblingswort auf Tschechisch ist „laskavý“. Das wird auf Deutsch häufig mit „nett“ oder „freundlich“ übersetzt, aber ich finde, das trifft es nicht. Es umfasst auch Dinge wie Rücksichtnahme. Eigentlich bräuchte ich mindestens zehn deutsche Wörter, um treffend zu beschreiben, was „laskavý“ bedeutet.

Ausblick in die Zukunft: Gibt es etwas, was Sie sich wünschen würden, was den Umgang beider Länder miteinander betrifft?

Ich komme aus dem Riesengebirge, dem ehemaligen Sudentenland, und habe in Brünn, von woher man schneller in Wien ist als in Prag, studiert. Ich habe sowohl in meiner Schullaufbahn als auch während meines Studiums kaum Projekte erlebt, die sich mit den Gemeinsamkeiten der Länder beschäftigt haben, und habe diese Trennschärfe „tschechisch“ vs. „deutsch“ sehr unkritisch gelebt und erlebe diese immer noch. Und das finde ich sehr schade und wünschte, dass in diesem Sinne mehr passiert. Ich würde mir wünschen, dass es auch im regulären Unterricht und auch außerhalb des Grenzgebiets mehr Projekte für junge Leute gibt, die sich mit den Gemeinsamkeiten beider Länder beschäftigen. Denn nicht nur historisch bedingt ist eine Menge an Gemeinsamkeiten vorhanden.
Ich freue mich ganz aufrichtig, dass ich nun auch in diesem Projekt der Bremer Bündnis mitmachen darf. Vielen Dank dafür!

Vielen Dank für das Interview.

Deutsch, tschechisch, europäisch

Im Interview: Professor Dr. Michal Kucera

Prof. Dr. Michal Kucera, Foto: Universität Bremen

Hallo Herr Professor Kucera, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview nehmen. Die wichtigste Frage natürlich zuerst: Wer sind Sie? Was möchten Sie uns über sich verraten?

Ich bin 1971 in Ceské Velenice, einem kleinen Ort an der tschechisch-österreichischen Grenze geboren. Ich habe in Prag Geologie studiert und in Schweden promoviert. Dort habe ich auch meine Frau kennen gelernt. Danach bin ich beruflich sehr oft umgezogen und wir konnten viele Ecken der Welt kennenlernen:  Kalifornien, London und Tübingen. Seit 2012 arbeite ich an der Universität Bremen als Professor am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften. Wir leben mit meiner Frau und unserem Sohn im Stadtteil Horn.

Meine Familie und viele Freunde leben weiterhin in Tschechien, daher besteht viel Kontakt und wir reisen regelmäßig dorthin. Ich verfolge auch die Entwicklung des Landes nach der Wende mit großem Interesse, und beobachte natürlich auch die Politik. Die Teilung von Tschechien und der Slowakei  war das letzte große politische Ereignis als ich noch in meiner Heimat lebte. Ich bin zum Teil Slowake und halte die Trennung bis heute für einen großen Fehler. 

Wie gefällt Ihnen Bremen – auch im Vergleich zu ihren bisherigen Erfahrungen?

Wir sind hier sehr zufrieden, auch beruflich war es eine gute Wahl, in meinem Fachbereich ist Bremen absolute Spitze. Wir erleben Deutschland als sehr offen, tatsächlich deutlich offener als zum Beispiel Schweden, und wir fühlen uns in Bremen gut eingebunden, sogar ein Tick besser als in Tübingen in Süddeutschland, wo wir sieben Jahre vorher verbrachten. Meinen tschechischen Pass werde ich wohl behalten, aber wir wollen erst einmal hierbleiben. Daher bin ich an der Universität einen Verantwortungsposten eingegangen, seit 2022 bin ich Konrektor für Forschung und Transfer.

Dürfen wir neugierig sein? Wenn Sie so international eingebunden sind, welche Sprache(n) sprechen Sie in der Familie?

Zu Hause sprechen wir vor allem Schwedisch. Deutsch war für mich die fünfte Sprache, die ich gelernt habe. Für unseren Sohn dagegen war es die Erste. Tatsächlich bezeichnet er Deutsch als seine Muttersprache. Wir wechseln aber auch oft hin und her.

Wann waren Sie zuletzt in Tschechien – und was war der Anlass?

Das war einer der erwähnten Familienbesuche, Ostern 2023. Während der Corona-Pandemie war das natürlich nur sehr beschränkt, teilweise gar nicht möglich. Daran knüpfen wir jetzt wieder an.

Was ist Ihrer Meinung nach typisch deutsch, was ist typisch tschechisch? Und was sind Gemeinsamkeiten?

Wir haben, wie schon erwähnt, an verschiedenen Orten auf der Welt gelebt und aus dieser Perspektive, mit dieser Erfahrung, erlebe ich beide Länder als überraschend ähnlich. Gar nicht so sehr als deutsch oder tschechisch, sondern eher als europäisch. Ich würde da aber noch einmal einen Unterschied machen zwischen Nord- und Süddeutschland. Im süddeutschen Raum sehe ich mehr Gemeinsamkeiten zu Tschechien, zur tschechischen Kultur. Norddeutschland erlebe ich als deutlich offener, es erscheint mir kosmopolitischer. Vielleicht liegt das am Zugang zum Meer und dass dadurch schon immer viel Austausch mit der Welt stattgefunden hat.

Das Verbindende: Gibt es etwas, das Menschen aus Tschechien und Deutschland voneinander lernen können?

Fangen wir mit Tschechien an. Nach der Wende hat sich hier ein zu starker Materialismus breit gemacht, es gab einen starken Fokus auf Besitz. Das ist eine Transformation, die ich nicht positiv finde. Wie kann ich schnellstmöglich reich werden? Diese Frage trieb sehr viele Menschen um und bestimmte zu viel das öffentliche Geschehen im Land. Das muss sich ändern, und ich hoffe, das tut es auch langsam. Statt: Mein Besitz, mein Haus, mein Grundstück soll mach breiter denken: Mein Dorf, mein Umfeld, wie sieht die Straße aus, auf der ich laufe? Es sollte nicht egal sein, wie es meinem Nachbarn geht. Die nach Wende herrschende Form von Extremkapitalismus fand ich wirklich bedenklich und fremd. Dafür haben wir 1989 die Revolution nicht gemacht.

Auch die Wertschätzung von Bildung und Wissenschaft finde ich enorm wichtig, nicht nur als Möglichkeit, Karriere zu machen, sondern auch unter dem Aspekt, etwas beizutragen, sich einzubringen, am Ende auch für die Demokratie. Das alles funktioniert – so mein Eindruck – in Deutschland besser.

Umgekehrt kann Deutschland einiges von Tschechien lernen in dem Punkt Infrastruktur, was die Wertschätzung von Arbeit und Familie angeht. Ich bin ganz ehrlich: Als ich hergekommen bin, war ich schockiert über die Umstände. Die Kita hat – ich übertreibe! – zwei Stunden geöffnet, man kann gerade mal einkaufen gehen und muss die Kinder schon wieder abholen? Was ist das? Ja, das ändert sich, es gibt manchmal sogar Essen in der Schule und Ganztagsbetreuung, es wird auch besser. Aber aus Tschechien kenne ich es anders, da ist das schon lange ganz normal. Es muss Müttern ermöglicht werden, zu arbeiten!

Suchen Sie sich bitte eine der beiden Sprachen aus:  Was ist Ihr Lieblingswort auf Deutsch bzw. auf Tschechisch – und warum?

Ich mag das deutsche Wort „nachvollziehbar“. Das finde ich als Konzept sehr praktisch, gerade im wissenschaftlichen Kontext. Im Tschechischen gibt es keine Entsprechung dazu. Man muss es immer umschreiben.  

Ausblick für die Zukunft: Denken Sie, beide Länder sollten noch mehr in den Austausch gehen, ihre Verbindung zueinander verstärken, auch im Sinne eines gemeinsamen europäischen Gedankens? Haben Sie einen Wunsch / eine Vision, wie das aussehen könnte?

Ich denke, Deutschland und Tschechien haben oft ähnliche Ziele, sind aber politisch nicht genau gleich. Migration ist da immer ein Thema. Tschechien haftet da ein Image mangelnder Offenheit an. Das muss man aber, mit Verlaub, auch im historischen Kontext sehen. Zum Beispiel haben Tschechien und die Türkei eine eigene Geschichte, die anders ist als die Geschichte von der Türkei und Deutschland. Dafür gibt es in Tschechien sehr viele Migrant*innen aus Vietnam. Das ist natürlich postkommunistisch, ähnlich wie ein der DDR, aber es ist eine sehr große, sehr lebendige Community. Deshalb finde ich, das Vorurteil ist etwas schief und nicht umfassend betrachtet. Was Austausch und Annäherung angeht, denke ich: Da ist bereits viel passiert. Ich nenne als Beispiel einmal das Gebiet Sudetenland. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich vor allem an viel Stacheldraht. Diese Grenzen sind jetzt weg. Wenn ich mit meinem Sohn durch die Gegend aus meiner Kindheit fahre und ihm zeigen will, wo früher der Grenzverlauf war, fällt es mir manchmal schwer, die Stellen noch zu finden. Das ist natürlich eine Generationenfrage, die jungen Leute kennen das gar nicht mehr anders als offen, und ich finde: Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Vielen Dank, Herr Professor Kucera, für Ihre Zeit und den Austausch!


Weiter Informationen unter:

https://www.uni-bremen.de/universitaet/organisation/rektorat/prof-dr-michal-kucera