Bremer Bündnis für deutsch-tschechische Zusammenarbeit
Heiko Strohmann ist 1968 in Rostock geboren und war bis zu seinem 16. Lebensjahr aufgrund seiner Sozialisation in einer kommunistisch geprägten Familie der DDR gegenüber positiv eingestellt. Erst als ihm das Studium verwehrt blieb, entwickelte er eine oppositionelle Haltung und engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung, die er allerdings verließ, da er die DDR als nicht reformierbar ansah. Sein politischer Wandlungsprozess führte zum Zerwürfnis mit seiner Familie. Nach einem Verhör durch die Staatssicherheit wuchs in ihm der Entschluss, aus der DDR auszureisen. Als er die Übertragung von Hans-Dietrich Genschers Rede am 30. September 1989 im Palais Lobkowitz in Prag sah, entschloss er sich zur spontanen Flucht am nächsten Tag. Nach Strohmanns Ausreise wohnte er bei seinem Bruder in Hildesheim, ehe er nach Bremen umsiedelte, um seiner alten Tätigkeit als Schausteller nachzugehen. Heute lebt er mit seiner Familie in der Hansestadt und ist Fraktionsvorsitzender der Bremer CDU.

Warum sind Sie nach Prag geflohen?

Im Blicke meiner Eltern bin ich immer weiter konterrevolutionär abgedriftet. [Ich] habe nach dem Abitur eine klare Ansage gekriegt, dass ich nicht studieren darf und das war für mich der Punk [gewesen], wo ich gesagt habe, hier ist jetzt Schluss. Ich war dann mit 19 Jahren nach dem Abitur eine gescheiterte Existenz und hatte ab dem Zeitpunkt mehr oder weniger nur den Gedanken, irgendwo ein neues Leben anzufangen, weil es in der DDR nicht möglich war. Und da eine Revolution oder ein Untergang des Sozialismus zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbar war 1987, 1988, kam perspektivisch nur die Flucht in die Bundesrepublik für mich in Frage. Und darauf habe ich mich vorbereitet und habe mir das angeschaut und dann war das eben ein glücklicher Umstand mit Prag. Eigentlich war Ungarn gedacht, aber ich kriegte kein Visum für Ungarn und die Tschechoslowakei war dann soweit besser.

Gab es denn Auseinandersetzungen mit Ihren Eltern, als sie mitbekommen haben, dass Sie von der Linie abkommen?

Ja, es gab massive Auseinandersetzungen mit meinen Eltern. Das war eigentlich das schlimmste Problem. Das schlimmste Problem war nicht, dass sie mich beschimpft haben, dass ich ein Versager sei oder dass ich enttäuschend bin oder so, sondern, dass mein Vater nicht für mich gekämpft hatte. Er hat sich nicht eingesetzt. Ich hatte einen Onkel, der noch linientreuer war als meine Eltern, der Bruder meiner Mutter. Und der war beim Zoll, [hatte] auch eine ziemlich hohe Funktion, der mich dann bei Familienfeiern [nicht reingelassen hat]. Wenn ich zu einer Familienfeier wollte, durfte ich nicht rein. Er hat an der Tür aufgemacht und gesagt: Du bist hier unwillkommen, du bist ein Volksschädling.

Einmal konkreter nachgefragt, war der Grund, dass Sie nicht studieren durften, wirklich ausschlaggebend für die Flucht? Gab es andere Gründe, die eine Rolle gespielt haben?

Nein, es ging mir nicht darum, zu studieren. Das war gar nicht die Priorität, sondern ich habe mit 17, 18, 19 bemerkt, wenn du dich nicht konform verhältst, hast du massive Probleme. In dem Gespräch damals mit meinem Schuldirektor an der Schule, wo ich das Abitur gemacht habe, hat er mir dann klar und deutlich gesagt: Eigentlich haben wir bei dir nicht so große Hoffnungen, aber du kannst dich in der Produktion bewähren. Ich hätte dann ganz normal als Schlosser oder als Arbeiter in die Werft gehen und da arbeiten können, hätte dann über ein Abendstudium irgendwann einen Ingenieur oder sowas gemacht. Ich wusste aber perspektivisch, dass ich immer an Grenzen stoßen werde, die nicht intellektuell wären, sondern immer politische Grenzen. Und ich hätte immer mehr leisten müssen, immer besser, immer mehr kuschen müssen und das wollte ich nicht. Und wenn man am System erkannt hat, wie krank es ist, dann will man auch nicht mehr. Ich wusste also, dass dieses System krank ist und ich konnte mir denken, dass es auch über kurz oder lang wirtschaftlich zusammenbrechen wird.

Mein Vater war einer der Chefökonomen in der DDR, der hat im Schiffbau gearbeitet, es war Rostock, war ja alles Schiffbau. Und er kannte sich relativ gut aus, wie es finanziell und wirtschaftlich um die DDR stand. Der hat schon 1983 besoffen bei einer Geburtstagsfeier gesagt, da wurden sie ja immer mutig, spätestens ’92 gehen hier sowieso die Lichter aus, dann sind wir pleite. Und von daher wusste ich, ich habe keine Perspektive, das wurde mir relativ klar. Ob mit Studium, ohne Studium. Ich konnte mir eine Nische suchen, was ich dann auch getan habe, ich bin Schausteller geworden und der Schaustellerberuf war in der DDR der einzige, der noch rein privatwirtschaftlich war. Es gab ja keine Privatwirtschaft außer [der] Schaustellerei und da war ich frei, dann hatte ich meine Ruhe. Das war auch finanziell attraktiv und ich war da in keinem System drin. Aber es ist halt eine Übergangsphase gewesen und dann war die Frage, was passiert in diesem Land. Oder habe ich die Chance, abzuhauen.

Dass die Bürgerrechtsbewegung irgendwann gewinnen wird, das habe ich nach den ersten Treffen mit diesen Leuten eigentlich ausgeschlossen. Die waren alle nett und idealistisch, aber eben weltfremd und in sich zerstritten. Sie hat nur eins geeint, gegen die SED zu sein. Aber das hat man nach der Wende relativ schnell gesehen, wie das auseinandergepflügt ist. Und dann hast du immer noch das Volk, was manchmal eine andere Meinung hat als Bürgerrechtsbewegte. Die DDR würde es heute noch geben, wenn sie nicht wirtschaftlich zusammengebrochen wäre, also ideologisch ist sie nicht gescheitert. Sie ist wirtschaftlich gescheitert. Und diese Erkenntnis hat mich dazu bewogen, mich einfach hinzusetzen und abzuwarten. Das ging dann ja relativ flott ’89.

War Ihnen vor oder bei der Flucht bewusst gewesen, dass Sie Ihre Freunde und Freunde gegebenenfalls nicht wiedersehen?

Ja, ich hatte es im Bewusstsein, aber ich hatte keine Familie und ich hatte keine Freunde. Ab dem Zeitpunkt, als mir klar war und das war ‘87, dass die Laufzeit hier in diesem Land bei mir überschaubar ist, habe ich mich fern von Freunden gehalten. Auch, um die zu schützen. Ich hatte eine Wohnung und dann bin ich über Nacht verschwunden. Mein Bruder ist mit mir nach Prag gefahren, weil er das Auto wieder zurücknehmen musste. Dadurch war das bekannt und dann hat meine Familie meine Wohnung leergeräumt und Tage später kam die Staatssicherheit. Unter Normalfall bist du davon ausgegangen, wenn du weg bist, kommt am nächsten Tag die Staatssicherheit und verhört erstmal dein komplettes Umfeld. Und dann ist es einfach besser, wenn man keine Freunde hat. Daran habe ich mich auch gehalten und Familie war mir relativ wurscht.

Wie wurde in der DDR diese erste Flüchtlingsgruppe wahrgenommen, die mehrere Wochen in der Botschaft war. Wie war die Stimmung unter der Bevölkerung?

Tolle, mutige, aber ziemlich verrückte Menschen. So kann man das auf den Punkt bringen. […] Das war toll, was die auf sich nehmen, ohne ansatzweise eine Chance zu haben, wie wir gedacht haben, ihr Ziel durchzusetzen. Wir sind zu dem Zeitpunkt davon ausgegangen, die lassen sie da verrotten. Aber ich fand das toll. Dass es Menschen gibt, die entweder so verzweifelt sind oder so mutig. Aber ziemlich verrückt, das zu machen. Und gerade mit Kindern.[…] Ich habe mich immer daran gehalten, jeder muss für sich selbst die Entscheidung treffen. Ich fand die damals mutig, die Menschen. Aber ziemlich verrückt, das zu machen.

War diese Meinung Konsens unter der Bevölkerung oder gab es Stimmen, die das verurteilt haben?

Ich glaube schon, dass die Mehrheit der normalen Bevölkerung das wahrgenommen hat, wie ich das sage. Das habe ich selbst bei Funktionsträgern nicht wahrgenommen, dass sie gesagt haben, wir sind doch so ein tolles Land und wie können sie dieses Paradies der Arbeiter verlassen und solche Sachen. So etwas gab es nicht. Das Einzige war, und das waren dann zum Teil sogar Leute, die politisch gar nicht links waren, also dem Staat eigentlich sehr kritisch gegenüber standen, die gesagt haben: Aber mit den Kindern, das kannst du denen doch nicht zumuten, und ich meine, das ist alles Mist hier, aber so schlecht [geht es uns nicht]. Wir haben zu essen, wir können ab und zu an die Ostsee in den Urlaub fahren oder so. Ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Das gab es dann schon. Aber das war dann mehr so in die Richtung [Kinderwohl]. Politisch war das glaube ich Konsens. Aber keiner hat die als Revolutionäre empfunden, sondern haben gesagt: Okay, wenn die so verzweifelt sind, ist das mutig, aber verrückt. Das konnte sich keiner vorstellen, dass wegen so ein paar Verrückten, sage ich jetzt mal, die DDR zusammenbricht.  

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