Es ist noch nicht lange her, dass Deutsche und Tschechen ihre Beziehungen vor allem im Bann der Geschichte sahen. Nicht der jahrhundertelangen, fruchtbaren gemeinsamen Geschichte in Mitteleuropa, sondern vor allem der Jahre seit 1938 bis in die Nachkriegszeit. Die Zeiten der Besatzung, des Holocausts und der Vertreibung ragten in die aktuelle gesellschaftliche Situation in beiden Ländern als zwei scheinbar nicht vergehen wollende Vergangenheiten. Man fühlte sich dieser Vergangenheit gegenüber für die Gegenwart bestenfalls machtlos, im schlimmeren Falle fürchtete man sich vor ihr.
Es war daher nicht überraschend, dass beide Gesellschaften sich über Jahre hinweg jeweils bekömmliche Nebenschauplätze zurechtgelegt hatten. Dort wollten sie die historischen Konflikte mit anderen Mitteln lösen und auch überwinden. Für die tschechische Seite waren diese Nebenschauplätze die Fußballstadien, wo man endlich die angeblich unbesiegbaren Deutschen besiegen wollte. Für die deutsche Seite die Eishockeystadien, wo man es endlich den favorisierten Tschechen zeigen wollte. Auch wenn manche dieser Siege bis heute zelebriert werden, ist es erleichternd, dass man nach der Wende angestrebt hat, diese Zeiten hinter sich zu lassen und schließlich mit der gemeinsamen Geschichte ins Reine zu kommen.
Man versuchte den Durchbruch bereits im Jahre 1992 mit Hilfe des deutsch-tschechoslowakischen Freundschaftsvertrags zu erzielen. Doch der wahre Durchbruch glückte im Jahre 1997, als Regierungen und später auch Parlamente beider Staaten die Erklärung über die deutsch-tschechischen Beziehungen und deren künftige Entwicklung verabschiedeten. Mit dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds schufen sie ein Instrument, das der Erklärung echtes Leben einhauchte.
Im Mittelpunkt dieses Dokuments, das sich primär der Zukunft widmen wollte, stand nichts anderes als die gemeinsame Geschichte. Die Geschichte, die über viele Jahrhunderte hinweg eine wirklich gemeinsame gewesen war. In der sich die Tschechischsprachigen und die Deutschsprachigen gegenseitig bereichert hatten in einem Teil der Welt, der mit „Mitteleuropa“ perfekt beschrieben war. Da gab es Gründe, warum Deutsche und Tschechen einander noch im Jahre 1997 mit einigem Argwohn beäugten. Wollen die einen nicht vielleicht doch das „Vierte Reich“ oder das „Sudetenland“ zurück? Wollen die anderen die Vertreibung leugnen? In dieser Atmosphäre war es ein Meisterstück der Diplomatie, sich auf eine Formel zu einigen, die betonte, dass die Geschichte nicht die künftigen Beziehungen belasten solle.
Unsere beiden Außenminister, Annalena Baerbock und Jan Lipavský, betonen in ihrem gemeinsamen Statement zum 25. Jahrestag, dass die gemeinsame Erklärung Respekt und Vertrauen zwischen unseren Ländern geschaffen hat, indem sie eben auf beides, Respekt und Vertrauen, gesetzt hat. Indem sie gerade nicht auf die Fortführung der alten Konflikte gesetzt hat und darüber hinaus Instrumente wie den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum geschaffen hat. Diese Institutionen haben es ermöglicht, Respekt und Vertrauen auch bei den alltäglichen Begegnungen grenzüberschreitend zu fördern und zu vertiefen. Sie haben einen auch institutionellen, gut finanzierten Rahmen geschaffen für die tägliche, immer vertrauensvollere Zusammenarbeit.
Dass die gemeinsame Erklärung bis heute wirkungsvoll und hilfreich ist, lässt sich an manchen Beispielen ablesen: Zahllose tschechische Initiativen zur Erkundung der gemeinsamen Vergangenheit, die wie selbstverständlich mit den früheren deutschsprachigen Bewohnern und ihren Nachkommen arbeiten, sind ebenso hervorzuheben wie die vielfältigen erfolgreichen Initiativen des Zukunftsfonds. Die Tatsache, dass heute der deutsche und der tschechische Botschafter einen gemeinsamen Artikel zu diesem Thema schreiben, mag ein weiterer Beleg sein. Historisch eine Marginalie, doch in Zeiten vor der Erklärung unvorstellbar!
Es ist wahr, dass vor Deutschen und Tschechen – genauso wie vor allen anderen Europäerinnen und Europäern, wie vor allen unseren Zeitgenossen – enorme Herausforderungen stehen. Die Zukunft hat die Geschichte als Terrain, in dem man sich zu behaupten hat, indes längst abgelöst. Das ist gerade in Zeiten, in denen Geschichtspolitik an anderen Orten auf unserem Kontinent immer stärker zum Mittel der politischen Auseinandersetzung wird, eine echte Errungenschaft. Wir haben viel erreicht zwischen Deutschen und Tschechen. Und so ist es bei allen künftigen Aufgaben, vor denen wir stehen werden, sehr wichtig und auch beruhigend, zumindest kurz anzuhalten und sich klarzumachen, dass man in diesen Herausforderungen nicht allein ist: Wir haben gleich nebenan einen guten Freund und Verbündeten, mit dessen Hilfe wir die Zukunft besser verstehen und meistern können.
Ein Beitrag von
Andreas Künne, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Prag
Tomáš Kafka, Botschafter der Tschechischen Republik in Berlin