Bremer Bündnis für deutsch-tschechische Zusammenarbeit
Dietrich Kappel ist am 1958 in Bernburg an der Saale geboren. Er hat in Halle an der Saale studiert und war schließlich ab 1984 als Zahnarzt in einer Poliklinik in Halle tätig. Sein Ausreiseantrag sowie der seiner Frau Corinna wurde abgelehnt und ihnen mitgeteilt, dass die DDR keine Ärzt:innen ausreisen lassen würde. Seine kritische Haltung der DDR gegenüber brachte ihn schließlich dazu, sich mit der Ausreisebewegung zu vernetzen und selbst widerständig tätig zu werden, indem er Ausreisewilligen Krankschreibungen ausstellte. Einer Verhaftung durch Angehörige der Staatssicherheit konnte er sich zwar entziehen, entschloss sich jedoch noch am selben Tag zur Flucht mit seiner Familie. In der Prager Botschaft engagierte er sich in der medizinischen Betreuung der Geflüchteten vor Ort und war Tag und Nacht in diese eingebunden. Nach der Ausreise im November 1989 gemeinsam mit seiner schwangeren Frau und dem gemeinsamen Sohn Hannes kam am 13. November 1989 die Tochter Anne in Schorndorf zur Welt. Nach einigen Zwischenstationen übernahm er eine Zahnarztpraxis in Worms, wo er bis heute mit seiner Familie lebt. Heute ist er im Ruhestand.

Aus welchen Gründen verließen Sie damals die DDR?

Schon als Abiturient hatte ich mich umgesehen, ob es eine Möglichkeit gibt, die DDR zu verlassen. Die ganze Struktur, auch im Bildungswesen, beruhte auf vorgefassten Meinungen. Es verlangt, dass sich jemand, der Abitur macht, drei Jahre freiwillig für den Wehrdienst meldet. Das war überhaupt nicht mein Ding. Ich hatte gar keine Lust, drei Jahre zur Armee zu gehen. Ich war dann auch nur eineinhalb Jahre [bei der Armee] gewesen und zum Dank dafür bin ich ohne Studienplatz von der Oberschule gegangen. Allerdings hatte ich ein sehr gutes Zeugnis, sodass ich mich extern beworben und dann auch einen Studienplatz für Zahnmedizin bekommen habe. Schon in der Schulzeit ging diese Gängelung, diese Nötigung los. Es zählte nicht die fachliche Qualität, sondern die Parteizugehörigkeit. Man musste sich in der FDJ, in der deutsch-sowjetischen Freundschaft und in allen möglichen Strukturen, die es gab, [einbringen]. Man musste sich mehr oder weniger prostituieren, wenn man was werden wollte. Aus dieser Zeit heraus wuchs das Bedürfnis immer weiter, diese Strukturen zu verlassen.

Dann haben wir irgendwann offiziell die Ausreise beantragt […], damit hat das Ganze eine neue Qualität [bekommen]. Damit stellt man sich nach außen hin und sagt: Man macht nicht mehr mit. Mit der Ausreise haben wir auch die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR beantragt, die man uns auch gewährt [hat]. Wir waren also noch eine Weile vogelfrei. Und dann wurden wir beschattet, neben uns wurde die Wohnung gemietet und mit [einem] Richtmikrofon hat man versucht, uns abzuhören. Wir haben dann die Lautsprecher verkehrt herum ins Fenster gestellt, dann hatten die Musik da drüben. Aber das erwuchs nachher [zu] einer Unerträglichkeit. Wir wollten dann eigentlich die Botschaft in Berlin in der Hannoverschen Straße besetzen. Da waren Freunde von uns im Juni 1989 gewesen und haben die Botschaft mit der Zusage [einer] freien Ausreise innerhalb eines Jahres verlassen. Nach dieser Botschaftsbesetzung im Sommer in Berlin hat man die ständige Vertretung für den Publikumsverkehr geschlossen. Da kam man also nicht mehr hin. Aber die Freunde hatten uns die Telefonnummer von einem gewissen Herr Bärtele mitgebracht, dem Chef der Vertretung in Berlin. Bei dem habe ich immer angerufen [und gefragt], ob die ständige Vertretung denn schon wieder für den Publikumsverkehr geöffnet ist. Und irgendwann sagt er dann mal zu mir: Herr Kappel, Sie sollten sich woanders umgucken. Und dann blieb nur noch Prag.

[Dietrich Kappel berichtet von der Entscheidung, nach Prag zu gehen]

Man hat uns unmissverständlich klargemacht: Zwei Ärzte lassen wir hier nicht raus. Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind. Und man wurde verfolgt. Die standen dann auf dem Parkplatz vor der Ambulanz [in der ich gearbeitet habe] und ein Bekannter kam herein und sagte: Du, die Stasi ist draußen, die stehen an deinem Auto. Ich bin dann hinten raus und habe gewartet, bis sie weg waren. Bin dann zu meinem Auto und bin gar nicht mehr in unsere Wohnung [gefahren]. Ich habe meine Frau angerufen und [gesagt]: Komm, [wir verschwinden]. Unser Sohn ist gerade in die Schule gekommen, erste Klasse. Den Schulranzen haben wir noch in der Schule stehen lassen und sind dann schnurstracks Richtung Prag gefahren.

Hätten Sie sich die Flucht auch schon 10 Jahre früher getraut?

Sicher. Ich war einmal an so einer Sache mit Fluchthelfern dran. Das war 1982 oder 1981. Ich bin aber gewarnt worden, da nicht hinzugehen. Das ist mir heute noch mysteriös. Das war ein Treffen an irgendeinem Autobahnrastplatz oder was mit einem LKW mit doppeltem Boden, was weiß ich. Und das ist aufgeflogen. Es gab unter diesen Fluchthelfern ganz linke Vögel, die die Leute abkassierten und sich von [der] Stasi noch einmal bezahlen ließen, dass sie Leute an der Grenze abliefern. Ja, gab es.

Ihre Frau hat erzählt, dass Sie in der Botschaft in der medizinischen Versorgung tätig waren. Können Sie etwas über die humanitäre Situation in der Botschaft erzählen?

Es gab einen Botschaftsarzt, der mit der Situation völlig überfordert war. Ganz netter Kerl, weiß aber nicht, wann der das letzte Mal einen Patienten gesehen hat. Nach meinem Zahnmedizinstudium hatte ich noch ein zweijähriges Zusatzstudium als Unfall- und Rettungsarzt. Ich bin also im Notarztwagen gefahren und bin dadurch mit der entsprechenden Situationskomik ausgestattet, in Notsituationen zu reagieren. Ich habe dann noch eine Zahnärztin kennengelernt in der Botschaft. Sie und ich haben gesagt: Wir helfen hier mal ein wenig mit, das sieht nicht so gut aus, was der junge Mann hier macht. Und der war heilfroh. Und dann gab es ein Sanitätszimmer und in diesem Zimmer haben wir dann praktiziert. Da gab es natürlich auch total witzige Sachen. […] Eines Nachts kam ein junger Mann an, der hatte Zahnschmerzen wie ein Gaul. Da habe ich in dem Arztzimmer ein Notfallset für zahnärztliche Notfälle gefunden. Ich sage: Pass mal auf, mein Freund, ich glaube, ich kann dir helfen. Ich habe das Set genommen, dem eine Spritze gegeben und dem den Zahn gezogen. Der wusste ja nicht, dass ich Zahnarzt bin, der hat mich angeguckt, als hätte er Jesus getroffen. Der hat mich angeguckt und gesagt: Boah, ihr Ärzte aus dem Westen könnt einfach alles! Na, du bist eine Pfeife, sage ich. Ich bin Zahnarzt in einer Poliklinik in Halle gewesen!
[…] Es gab auch banale Probleme. Zum Beispiel waren viele kleine Kinder mit. Und was gab es [in der Botschaft], was es im Osten natürlich nicht gab? Orangensaft. Bravo. Die hatten alle einen wunden Hintern. Es reichten dann nicht mehr die normalen Pampers, du brauchtest Moltex, weil die weicher und zarter sind. Das kleine Kinder-Ost-Ärschchen kannte keinen Orangensaft. Durch die Zitrussäure waren die alle wund. Solche banalen Probleme gab es, aber die mussten gelöst werden. Also musste Moltex bestellt werden. Dann ging das aber los. Jetzt kamen die Windeln und die Sanitärartikel für Frauen an. Aber nun war das so, die konntest du nicht einfach hinstellen. Da kam die Ostmentalität durch: Nehme ich erst mal mit, können wir tauschen. Drei Mann nehmen sich Windeln und dann sind alle weg. Also mussten die mit dem Kind kommen und den wunden Po vorzeigen. Und dann haben die Windeln bekommen, erst mal drei Stück. Mussten sie sich dann ein wenig einteilen. Und dann kam aber schon der Dritte mit Kind, mit demselben Kind. Geht also auch nicht, Stempel auf den Po gemacht. Das klingt lächerlich, aber das war der Alltag. Es gab nicht nur tragische Geschichten, es war manchmal auch  total lustig.

Was hätte die DDR machen müssen, damit Sie gesagt hätten: Alles klar, wir steigen jetzt in den Bus und fahren zurück?

Die DDR hätte machen können, was sie will. Wenn seitens der Botschaft oder seitens der Bundesregierung die Garantie gekommen wäre: Wir kümmern uns, macht euch keine Sorgen! Denen hätte man geglaubt. […] Das wäre dann nicht Schall und Rauch. Aber mit der Zusage von Herrn Vogel oder Gysi? Sorry, aber das ist zu dünn. Ein amtliches Dokument der Bundesregierung oder [der] Botschaft, das wäre eine Sache gewesen.

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