Deutsch, tschechisch, europäisch

Im Interview: Professor Dr. Michal Kucera

Prof. Dr. Michal Kucera, Foto: Universität Bremen

Hallo Herr Professor Kucera, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview nehmen. Die wichtigste Frage natürlich zuerst: Wer sind Sie? Was möchten Sie uns über sich verraten?

Ich bin 1971 in Ceské Velenice, einem kleinen Ort an der tschechisch-österreichischen Grenze geboren. Ich habe in Prag Geologie studiert und in Schweden promoviert. Dort habe ich auch meine Frau kennen gelernt. Danach bin ich beruflich sehr oft umgezogen und wir konnten viele Ecken der Welt kennenlernen:  Kalifornien, London und Tübingen. Seit 2012 arbeite ich an der Universität Bremen als Professor am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften. Wir leben mit meiner Frau und unserem Sohn im Stadtteil Horn.

Meine Familie und viele Freunde leben weiterhin in Tschechien, daher besteht viel Kontakt und wir reisen regelmäßig dorthin. Ich verfolge auch die Entwicklung des Landes nach der Wende mit großem Interesse, und beobachte natürlich auch die Politik. Die Teilung von Tschechien und der Slowakei  war das letzte große politische Ereignis als ich noch in meiner Heimat lebte. Ich bin zum Teil Slowake und halte die Trennung bis heute für einen großen Fehler. 

Wie gefällt Ihnen Bremen – auch im Vergleich zu ihren bisherigen Erfahrungen?

Wir sind hier sehr zufrieden, auch beruflich war es eine gute Wahl, in meinem Fachbereich ist Bremen absolute Spitze. Wir erleben Deutschland als sehr offen, tatsächlich deutlich offener als zum Beispiel Schweden, und wir fühlen uns in Bremen gut eingebunden, sogar ein Tick besser als in Tübingen in Süddeutschland, wo wir sieben Jahre vorher verbrachten. Meinen tschechischen Pass werde ich wohl behalten, aber wir wollen erst einmal hierbleiben. Daher bin ich an der Universität einen Verantwortungsposten eingegangen, seit 2022 bin ich Konrektor für Forschung und Transfer.

Dürfen wir neugierig sein? Wenn Sie so international eingebunden sind, welche Sprache(n) sprechen Sie in der Familie?

Zu Hause sprechen wir vor allem Schwedisch. Deutsch war für mich die fünfte Sprache, die ich gelernt habe. Für unseren Sohn dagegen war es die Erste. Tatsächlich bezeichnet er Deutsch als seine Muttersprache. Wir wechseln aber auch oft hin und her.

Wann waren Sie zuletzt in Tschechien – und was war der Anlass?

Das war einer der erwähnten Familienbesuche, Ostern 2023. Während der Corona-Pandemie war das natürlich nur sehr beschränkt, teilweise gar nicht möglich. Daran knüpfen wir jetzt wieder an.

Was ist Ihrer Meinung nach typisch deutsch, was ist typisch tschechisch? Und was sind Gemeinsamkeiten?

Wir haben, wie schon erwähnt, an verschiedenen Orten auf der Welt gelebt und aus dieser Perspektive, mit dieser Erfahrung, erlebe ich beide Länder als überraschend ähnlich. Gar nicht so sehr als deutsch oder tschechisch, sondern eher als europäisch. Ich würde da aber noch einmal einen Unterschied machen zwischen Nord- und Süddeutschland. Im süddeutschen Raum sehe ich mehr Gemeinsamkeiten zu Tschechien, zur tschechischen Kultur. Norddeutschland erlebe ich als deutlich offener, es erscheint mir kosmopolitischer. Vielleicht liegt das am Zugang zum Meer und dass dadurch schon immer viel Austausch mit der Welt stattgefunden hat.

Das Verbindende: Gibt es etwas, das Menschen aus Tschechien und Deutschland voneinander lernen können?

Fangen wir mit Tschechien an. Nach der Wende hat sich hier ein zu starker Materialismus breit gemacht, es gab einen starken Fokus auf Besitz. Das ist eine Transformation, die ich nicht positiv finde. Wie kann ich schnellstmöglich reich werden? Diese Frage trieb sehr viele Menschen um und bestimmte zu viel das öffentliche Geschehen im Land. Das muss sich ändern, und ich hoffe, das tut es auch langsam. Statt: Mein Besitz, mein Haus, mein Grundstück soll mach breiter denken: Mein Dorf, mein Umfeld, wie sieht die Straße aus, auf der ich laufe? Es sollte nicht egal sein, wie es meinem Nachbarn geht. Die nach Wende herrschende Form von Extremkapitalismus fand ich wirklich bedenklich und fremd. Dafür haben wir 1989 die Revolution nicht gemacht.

Auch die Wertschätzung von Bildung und Wissenschaft finde ich enorm wichtig, nicht nur als Möglichkeit, Karriere zu machen, sondern auch unter dem Aspekt, etwas beizutragen, sich einzubringen, am Ende auch für die Demokratie. Das alles funktioniert – so mein Eindruck – in Deutschland besser.

Umgekehrt kann Deutschland einiges von Tschechien lernen in dem Punkt Infrastruktur, was die Wertschätzung von Arbeit und Familie angeht. Ich bin ganz ehrlich: Als ich hergekommen bin, war ich schockiert über die Umstände. Die Kita hat – ich übertreibe! – zwei Stunden geöffnet, man kann gerade mal einkaufen gehen und muss die Kinder schon wieder abholen? Was ist das? Ja, das ändert sich, es gibt manchmal sogar Essen in der Schule und Ganztagsbetreuung, es wird auch besser. Aber aus Tschechien kenne ich es anders, da ist das schon lange ganz normal. Es muss Müttern ermöglicht werden, zu arbeiten!

Suchen Sie sich bitte eine der beiden Sprachen aus:  Was ist Ihr Lieblingswort auf Deutsch bzw. auf Tschechisch – und warum?

Ich mag das deutsche Wort „nachvollziehbar“. Das finde ich als Konzept sehr praktisch, gerade im wissenschaftlichen Kontext. Im Tschechischen gibt es keine Entsprechung dazu. Man muss es immer umschreiben.  

Ausblick für die Zukunft: Denken Sie, beide Länder sollten noch mehr in den Austausch gehen, ihre Verbindung zueinander verstärken, auch im Sinne eines gemeinsamen europäischen Gedankens? Haben Sie einen Wunsch / eine Vision, wie das aussehen könnte?

Ich denke, Deutschland und Tschechien haben oft ähnliche Ziele, sind aber politisch nicht genau gleich. Migration ist da immer ein Thema. Tschechien haftet da ein Image mangelnder Offenheit an. Das muss man aber, mit Verlaub, auch im historischen Kontext sehen. Zum Beispiel haben Tschechien und die Türkei eine eigene Geschichte, die anders ist als die Geschichte von der Türkei und Deutschland. Dafür gibt es in Tschechien sehr viele Migrant*innen aus Vietnam. Das ist natürlich postkommunistisch, ähnlich wie ein der DDR, aber es ist eine sehr große, sehr lebendige Community. Deshalb finde ich, das Vorurteil ist etwas schief und nicht umfassend betrachtet. Was Austausch und Annäherung angeht, denke ich: Da ist bereits viel passiert. Ich nenne als Beispiel einmal das Gebiet Sudetenland. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich vor allem an viel Stacheldraht. Diese Grenzen sind jetzt weg. Wenn ich mit meinem Sohn durch die Gegend aus meiner Kindheit fahre und ihm zeigen will, wo früher der Grenzverlauf war, fällt es mir manchmal schwer, die Stellen noch zu finden. Das ist natürlich eine Generationenfrage, die jungen Leute kennen das gar nicht mehr anders als offen, und ich finde: Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Vielen Dank, Herr Professor Kucera, für Ihre Zeit und den Austausch!


Weiter Informationen unter:

https://www.uni-bremen.de/universitaet/organisation/rektorat/prof-dr-michal-kucera

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